Bosko Tomasevic

Podium Porträt Nr. 64


Bosko Tomasevic, geb. 1947 in der Wojwodina, Ex-Jugoslawien, ist Autor und Universitätsdozent. Zwischen 1990 und 2006 hielt er Vorlesungen aus Literaturtheorie, Poetik, Hermeneutik und literarischer Epistemologie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Göttingen, Nancy, Innsbruck, Wien und Berlin. Von seinen bedeutenderen wissenschaftlichen Arbeiten seien folgende erwähnt: Aus der Erfahrung des Seins und der Dichtung (1988), Kartesianischer Roman (1989), Selbstzerstörende Theorien. Die Literaturtheorie und der Geist des Postmodernismus (1993), Unendlicher Tausch. Fundamentalontologie als Theorie der Dichtung (1997), Zu einer definitiven Literaturtheorie (2000), Dichtung, Literaturtheorie, Existenz (2003), Galileische Poetik (2004), Hermeneutik des Undurchsichtigen (2006).
Eckpunkte seines dichterischen Werkes sind die eleatische metaphysische Reflexion, das postmodernistische intertextuelle Gespräch mit der europäischen Dichtertradition (W. Blake, J. Donne, F. Hölderlin, P. Valéry, R.M. Rilke, B. Pasternak, O. Mandelstam, T.S. Eliot, E. Pound, G. Trakl, R. Char, P. Celan, J.L. Borges, S. Beckett) und die geistigen Aspekte des Dichtungsaktes selbst. In letzter Zeit thematisiert Tomasevic immer mehr seine eigene Lebenserfahrung als Erlebnis der Verbannung, als ein Reden über die Vertreibung in die Heimatlosigkeit, und er versteht das Dichten emblematisch als Sprengung des Nahen, das "keinen Ufern gewidmet ist". Diese drei unterschiedlichen Poetiken treten in den folgenden Gedichtbänden des Autors zutage: Kartesianischer Durchgang (1989), Zeitbewacher (1990), Wiederholung und Differenz (1992), Cool Memories (1994), Landschaft mit Wittgenstein und andere Ruinen (1995), Überprüfung der Quelle (1995), Plan der Rückkehr (1996), Saison ohne Herr (1998), Studie des Testaments (1999), Sprachwüste (2001), Der Sommer meiner Sprache (2002), Nirgendwo (2002), Celan trifft H(eidegger) und Ch(ar) in Todtnauberg (2005).
Bosko Tomasevic ist Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft, Kunst und Literatur (Paris), Mitglied des französischen und österreichischen P.E.N., wie auch der Société des Gens de Lettre de France (Paris) und des Österreichsichen Schriftstellerverbandes (Wien).
Zur Zeit lebt er als freier Autor in Innsbruck.
 
Die wesentliche Dichtung. Poetische Manifeste, 2004
Roman: Verspäteter Bericht an eine Akademie, Innsbruck, 2000

Buchveröffentlichungen (Lyrik):

Kartesianischer Durchgang, Göttingen, 1989
Zeitbewacher, Belgrad, 1990
Celan-Studien, Sremski Karlovci, 1991
Das Licht des Zündholzes, Sombor, 1992
Wiederholung und Differenz / Répétition et Différence, Nancy, 1992
Das Licht für die Ausgrabung, Birmingham, 1993
Feuerspuren, Nancy, 1994
Cool Memories, Wien, 1994
Celan-Etudes (in französischer Sprache), Troyes, 1994
Landschaft mit Wittgenstein und andere Ruinen, Wien, 1995
Überprüfung der Quelle, Nancy, 1995
Plan der Rückkehr, Novi Sad, 1996
Zweite Geschichte der Literatur (Ausgewählte Gedichte), Novi Sad
Gespräch in Heidelberg, Stuttgart, 1998
Saison ohne Herr, Novi Sad, 1998
Studie des Testaments, Novi Sad, 1999
Lichtung und Anwesenheit, Belgrad, 2000
Sprachwüste, Belgrad, 2001
Appendix, Novi Sad, 2001
Der Sommer meiner Sprache, Novi Sad, 2002
Nirgendwo, Belgrad, 2002
Celan trifft H. und C. in Todtnauberg, Arsenal Verlag, Berlin, 2005
Erneute Vergeblichkeit, Novi Sad, 2005

Leseprobe


NICHT EIN Licht
teilhabenden Brotes
vor uns.
Doch ist Gesetz
dass alles hinabsteigen muss
auf den Grat
des Namens.
Und manches muss
im Denken
dorngleich
erklärt werden
Das Bestehende:
noch ist zu besingen
helles Licht der Öllampe
wo die Sprache
am wenigsten wir erwarten

*

Wohin und zurück

Ich erinnere mich,
ich ging wohin,
ich ging zurück,
und was ist geblieben? Nichts mehr und
alles. "Was war, das ist und wird sein,
auch gegen sich selbst." Ein wenig
vom Leben, genug vom Tod,
ein Fluss ohne Wiederkehr, ein Fluss mit Wiederkehr,
Lärmen und Toben,
Mitleidigkeit des Todes, wovon ein Verrückter erzählt,
entschlafener Gott, der uns aufnahm
und nicht erkennt.
Aber was bleibt, ist das Leben.

*

Port Bou, 27. September 1940

Immer öfter denke ich
an Walter Benjamin.
Übergang über die östlichen Pyrenäen.
Spanisches Ufer.
Port Bou. Die Geschichte, die Lisa Fittko erzählte.
Moosiges Morphium
ließen sie blühen,
verschlungen über des Zimmers Schlucht.
Nichts, das Vorzimmer zu durchlüften,
des Entschlusses Schleier zu heben.
Von dort schritt mein Gott aus,
den Kreis zu beschreiben.
Bruder, sumpfiger!
Lange schon
wartet auf uns Geduld,
ermutigend das Erkennen
eisigen Atems.
Anders brauchen uns
die Tatsachen.
Aber seltsam
(nicht wahr?)
keine Hilfe mehr zu wollen
in Hoffnungsbildern,
unaussprechlich
nach dem Maß von
Auge-Zunge.

*

Wien, Vorfrühling

Für Milo Dor

Schmelzende Kuppeln mit ersten Grashalmen.
Vergoldet in steinernen Bauwerken
der Friede des Jahres und kristallenen Fäulnis.
Die Kaiser rufen nicht zum Krieg.
Am Graben erblüht Kafeeduft,
senkt sich ins Kathedralendunkel
und nährt die Krypten des Ahnentsaftes.
Vom Karlsplatz fliegen rote Trambahnen,
und über marmorne Ringe eilen sie
zum Belvedere, nach Schönbrunn.
Abends ergießen sich
helle Bisampelze in das Theater,
vornehme Schurrbärte nachmittäglicher Händler
sammeln den Staub der Bühne.
Schwarze Kolporteure schweben
durch das Dämmerlicht der Metro.
Gedämpft tönt die Arie des Gongs.
Mitternacht streut vereinsamtes Sternenlicht
über erblühende Mauern des morgigen Tages.
Nur eine kleine Schwärze noch
huscht aus goldeene Steinen
und wandelt kalt
zu den Schatten ungeteilter Zeit.

*

Wohin und zurück

Ich erinnere mich,
ich ging wohin,
ich ging zurück,
und was ist geblieben? Nichts mehr und
alles. "Was war, das ist und wird sein,
auch gegen sich selbst." Ein wenig
vom Leben, genug vom Tod,
ein Fluss ohne Wiederkehr, ein Fluss mit Wiederkehr,
Lärmen und Toben,
Mitleidigkeit des Todes, wovon ein Verrückter erzählt,
entschlafener Gott, der uns aufnahm
und nicht erkennt.
Aber was bleibt, ist das Leben.

*

DASSELBE Schöne
übertragbares Abendfeld,
welches das Sein
bis zum Morgengrauen
aufschiebt
und welches
die Stimme aufschiebt
bis zum letzten
Weg des Lesens,
terrestrisch.
Und welches das Wort aufschiebt
das unwirkliche
bis zum finsteren
Spiegel
der Schrift.

*

Ich versuche zu denken

wie groß waren die Freuden
wie duftete die Quitte im Zimmer
der Geruch gefrorener Wäsche
die Eltern und das weite Zimmer
alles was wir hatten in ihm allein
es war Vertrautheit Nähe
verglichen mit dem was kommen sollte
eines jeden in uns
eines jeden ohne uns

*

Bosko Tomasevic: Ausgewählte Gedichte. Vorwort: Walter Methlagl. Podium Porträt 64. 64 Seiten,
ISBN 978-3-902054-96-8

 

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